Niners Chemnitz: Skill Ball > Small Ball

Small Ball hat sich in Basketballkreisen aller Orten als Synonym für modernen Basketball etabliert. Dabei ist die gerade die BBL schon seit mehr als ein anderthalb Jahrzehnten dafür bekannt, dass Teams mit geringem Budget tendenziell auf kleinere, athletischere Lineups setzen und so durchaus erfolgreich sein können. Rodrigo Pastore, Chefstratege der Niners Chemnitz, hat dieses Konzept vor Jahren schon zu ProA Zeiten nach seinen Vorstellungen angepasst und ist der Garant dafür, weshalb Chemnitz sich mittelfristig zum Playoff-Abonnenten entwickeln wird.

Chemnitz‘ Skill Ball

Traditionell ist es so, dass große Basketballer, die gleichzeitig über gute Koordination/Athletik, Basketballskills und Spielgefühl verfügen, rar gesät sind. Entsprechend hoch ist der Marktwert dieser seltenen Spezies und viele Teams gehen trotz größter Bemühungen und Lockrufe leer aus. Da gerade Teams mit vergleichsweise geringen Spieleretats beim Wettbieten nicht einmal einsteigen können, gehen sie direkt einen anderen Weg und suchen Kandidaten, die hinsichtlich mindestens eines Kriteriums nicht die Wunschvoraussetzungen mitbringen. In der Regel entscheiden sich viele Coaches dafür, bei den Zentimetern der Körpergröße Abstriche in Kauf zu nehmen.

Das Kalkül dahinter sollte geläufig sein: Weniger Größe bedeutet in der Regel mehr Schnelligkeit und ein höheres Spieltempo, was wiederum die Nachfrage an Athletik und spezifischen Skills (Shooting, Drive-&-Kick-Qualitäten) erhöht. Dieser Spielstil wird in der Regel mit dem Stempel „Small Ball“ versehen. So könnte man auf die Idee kommen, dieses Siegel auch den Niners Chemnitz zu verleihen. Kein Spieler der Sachsen ist größer als 2,06m – ein klassischer Brettcenter fehlt gänzlich im Kader. Doch es wäre ignorant, Rodrigo Pastores Stil schnöde als „Small Ball“ zu bezeichnen. Denn im Gegenteil weisen Chemnitz‘ Lineups in der Regel eine größere durchschnittliche Körperhöhe auf als die gegnerische Lineup auf dem Feld.

Pastore mit Frantz Massenat und Gerald Robinson (mittlerweile nach Italien gewechselt) (c) IMAGO / Alexander Trienitz

Das liegt an Pastores Interpretation des „Skill Balls“. Die Frontcourt-Spieler – namentlich Jonas Richter, Jan Niklas Wimberg, Isiaha Mike, Mindaugaus Susinskas und Darion Atkins – sind in nahezu allen für das Spiel relevanten Aspekten identisch: Alle Spieler messen knapp über zwei Meter, sind schnell zu Fuß, haben ein hohes Spielverständnis, gute Basketballskills und – eine sich auf unterschiedliche Arten äußernde – Toughness.

Das ermöglicht unfassbar viel Variabilität, da jede erdenkliche Kombination der fünf Hauptakteure auf drei Positionen spielbar ist. Zugleich bringt jeder Spieler noch seine unikate Facette in dieses Konglomerat ein. Bereits seit seiner Ankunft 2015 hat der argentinische Trainer der Niners diese Philosophie etabliert und ein geölte Maschine konstruiert, die in der BBL ein Alleinstellungsmerkmal bildet und die Niners somit zum Playoffanwärter und Dark Horse mutieren lässt.

Offense

Skills äußern sich in allererste Instanz vor allem in der Offensive, daher erscheint es sinnvoll, an diesem Ende des Court mit dieser Kurzanalyse des Chemnitzer Frontcourts zu beginnen.

Ein zentrales Element der Chemnitzer ist – wie in jeder anderen Offensive auch – das Pick & Roll. Doch die Vielseitigkeit der Bigs ermöglicht es Pastore, eine Vielzahl von Mechanismen auf den Kopf zu stellen, ständig zwischen verschiedenen Varianten zu wechseln und die Defense in eine geradezu paranoide Grundspannung zu versetzen, da nie offensichtlich ist, welches Opfer die Chemnitzer im kommenden Angriff im Visier haben.

Short Roll

Besonders zwei Spieler sind in den allermeisten Fällen die Blocksteller: Jonas Richter und Darion Atkins. Beide Spieler haben gemein, dass sie breit gebaut sind – somit ein effektives Hindernis für den zu blockierenden Verteidiger darstellen – und schnell auf den Füßen unterwegs sind. Letzteres ist eine nicht zu unterschätzende Stärke, da sie dadurch selbst auf kurzen Strecken im Halbfeld eine entscheidende Distanz zwischen sich und den eigenen Verteidiger im Sprintduell zum Block bringen, wodurch es für den verteidigenden Big Man schwerer wird, die Penetration des Ballhandlers zu unterbinden.

Das Eigengewächs Richter etablierte sich ursprünglich mit der Perspektive als Faceup/Stretch Vierer in der Rotation des damaligen Zweitligisten. Doch Pastore schien das Gefühl zu bekommen, dass Richters Potential sich in diesem Spielertypus nicht gänzlich entfalten kann. Also arbeitete Richter an seinem Körper, legte Muskelmasse auf und wurde von Pastore fortan erfolgreich zum „Fünfer“ umfunktioniert.

Wie der MDR im Vorbericht zum MBC-Spiel anmerkte: Mit 24 Jahren ist Richter bereit Niners-Rekordspieler (c) imago images/Eibner

Darion Atkins ist die Rolle als Big Man ebenfalls gewohnt. Bereits am College in Virginia pendelte Atkins zwischen den Positionen vier und fünf, wobei diese in der „Mover-and-Blocker“-Offense der Cavaliers mehr oder weniger die gleichen Aufgabenstellungen enthielten. Bei seinen späteren Stationen in Europa wurde Atkins ebenfalls oft als Fünfer und Blocksteller genutzt.

Die große Spezialität der beiden Frontcourt-Spieler ist der Short Roll. Sie rollen sich dabei nicht geradlinig bis zum Korb ab, sondern visieren eher eine Position zwischen Freiwurflinie und No-Charge-Halbkreis an. Das hat gleichere mehrere Vorteile:

Erstens können sich nach Passerhalt ihren jeweils guten Floater bzw. Push-Shot aus dieser Distanz anbringen, den beide perfektioniert haben und sehr hochprozentig treffen. Eben weil sie ihn so hochprozentig treffen, muss der sogenannte „Tag“-Defender, der als dritter Verteidiger kurz den Roller übernehmen soll, solange der eigentliche Verteidiger den Ballhandler im unmittelbaren Pick & Roll stoppt, zweitens einen längeren Weg gehen.

Daraus ergibt sich wiederum drittens, dass ebenjener Verteidiger seinen eigenen Gegenspieler aus den Augen verliert und die Baseline für einen kurzen Moment blank ist. Hier wiederum sind Richter und Atkins, aber auch Jungs wie Susinskas oder Mike exzellent, die Lücke per Cut und Dunk zu bestrafen. Doch auch diese Dunks und Layups erstehen erst durch die Skills von Richter und Atkins. Beide sind exzellente Passgeber und finden Cutter fast immer.

Deep Roll

Doch auch das klassische Rollen bis zum Ring – den „Deep Roll“ – haben die Chemnitz Bigs drauf. Allen voran Atkins fühlt sich rund um den Ring sehr wohl – auch in Sachen Flughöhe. Dank seiner Sprungkraft und seines guten Timings kann Atkins auch hohe Lobanspiele fangen und verwerten.

Durch dieses vertikale Spacing können Teams in aller Regel das Pick & Roll nicht nur mit zwei Verteidigern lösen, da Atkins‘ eigener Verteidiger bei hohen Pässen nah an den Ring keine Chance mehr hat, Atkins ohne Foul entscheidend zu stören. Stattdessen muss daher auch bei den Deep Rolls ein dritter Verteidiger kurzzeitig aushelfen, was auf der Weakside erneut Lücken reißt.

Spacing & Bewegung abseits des Balls

Lücken auf der Weakside sind ohnehin ein Problem in der eigenen Verteidigung für die Gegner von Chemnitz. Denn alleine aufgrund dieser zwei vergleichsweise relativ simplen Spielvarianten des Pick & Rolls der Niners, die erst durch die spezifischen Skillsets der Blocksteller so gefährlich werden, können die Sachsen bereits viele einfache Punkte generieren.

Pastore ist jedoch auch ein Meister darin, die Verantwortungsbereiche und Kommunikationsfähigkeiten der Tag-Verteidiger auf ein Äußerstes auszureizen und noch mehr Druck aufzubauen, indem er zwei zusätzliche Stilmittel gerne nutzen.

Erstens ist eines der Chemnitzer Prinzipien gegen Teams, die sehr weit auf die Helpside absinken, das Pick & Roll nur als Decoy zu nutzen. Statt also unmittelbar einen Vorteil aus dem Pick & Roll ziehen zu wollen, reicht es den Niners schon, dass der Blocksteller an die Dreierlinie sprintet, der Tag-Verteidiger absinkt und sich zu weit von seinem Gegenspieler entfernt. Noch ehe der Blocksteller richtig angekommen ist, leitet der Ballhandler über den Spieler auf der 45-Grad-Position das Leder an den Spieler in die Ecke weiter, dessen abgesunkener Verteidiger nun in schlechter Position für ein Closeout ist und wodurch die Niners viele Fouls ziehen.

Des Weiteren manipuliert Pastore die Defense gerne, indem er den Gegenspieler des Tag-Verteidigers – meistens einen Shooter – an der Baseline positioniert und im Rücken des Pick & Rolls an die Dreierlinie cutten lässt. Das stellt den Verteidiger nun vor die schwierige Entscheidung: Bleibe ich stehen und gebe einen offenen Dreier für einen guten Schützen ab oder gehe ich mit nach oben und verwaise damit die Zone?

Skill: Passing

Das ist alles ist jedoch kein Hexenwerk und jedes Team der BBL agiert hier in ähnlicher Art und Weise. Besonders werden die bisher beschriebenen Elemente erst durch die Skillsets der Bigs und Pastores Wille zur Experimentierfreudigkeit. Wie bereits zuvor angemerkt, sind Chemnitz‘ Bigs exzellente Passgeber. Das bezieht sich allerdings nicht nur auf Atkins und Richter und auch nicht nur auf Situationen im Short Roll. Gerade auch im offenen Feld und im freien Spiel überzeugen Richter & Co. als Playmaker und Entscheidungsfinder.

Skill: P&R Ballhandler

Das geht schließlich so weit, dass Pastore sowohl Susinskas als auch Wimberg mehrmals pro Spiel als Ballhandler im Pick & Roll nutzt. Mit ihrer Größe von etwa 2,05m können sie über die Defense hinweg sehen und Pässe spielen, die 15 Zentimeter kleineren Aufbauspielern de facto unmöglich sind. Das ist ein entscheidender Vorteil, den Pastore durchaus gezielt – zum Beispiel nach Auszeiten – einsetzt.

Hervorsticht dabei, dass die beiden großgewachsenen Forwards bei Ihren Pässen nicht nur auf einfache Plays und klare Vorgaben beschränkt sind, sondern durchaus selbst kreativ werden und die Defense auf eine falsche Fährte locken können. Gerade Wimberg arbeitet gerne mit Lookaways, um anschließend den langen Skip-Pass in die entgegengesetzte Spielfeldecke zu feuern.

Skill: Shooting

Abgerundet werden die offensiven Fertigkeiten des Chemnitzer Frontcourt dadurch, dass grundsätzlich jeder Spieler, den offenen Dreier treffen kann. Während Susinskas mit einer Trefferquote von über 53 Prozent bei fast zwei erfolgreichen Versuchen pro Spiel die litauische Standarte mit Stolz repräsentiert, wirft ein Wimberg immerhin knapp 31 Prozent jenseits der Dreierlinie in den Korb. Diese Quote sollte allerdings im Saisonverlauf noch steigen und sein Gamewinner gegen Frankfurt zudem Warnung genug sein, ihn nicht einfach stehen zu lassen.

Defense

Doch nicht nur in der Offensive ist die Vielseitigkeit der Chemnitzer Frontcourtspieler gefragt. Auch defensiv verlangt Pastore, dass sich seine großen Jungs reinhängen und auch an eventuell ungewohnten Orten einen soliden Job verrichten. Nur wer an beiden Enden des Feldes eine Bereicherung für das Team darstellt und mit viel Intensität spielt, kann im System von Pastore dauerhaft Spielzeit erhalten.

Perimeter Defense

Das bedeutet für die Forwards des Teams, dass sie neben den üblichen Aufgaben beim Defensivrebound, bei der Rimprotection und Postup-Defense auch sehr viel Zeit am Perimeter rund um die Dreierlinie verbringen. Dadurch wird eine vermeintlich ungewohnte – und dadurch vielleicht unkomfortable – Position zur Gewohnheit. Mit steigendem Erfahrungsschatz entwickelt sich wiederum eine gewisse Routine, die einen gewissen Grad an Kontrolle und Erfolg in Eins-gegen-Eins-Duellen ermöglicht.

Mittlerweile geht beispielsweise Pastores Vertrauen in Richter nach sechs Jahren des gemeinsamen Arbeitens soweit, dass der Kapitän Spezialaufgaben erhält, die durchaus darin bestehen, den besten Spieler des Gegners als Edelstopper an die Leine zu ketten. Und das unabhängig von der Position. So durfte Richter gegen Crailsheim beispielsweise den gut 25 Zentimeter kleineren T.J. Shorts nicht nur verteidigen, sondern auch über das ganze Feld aufnehmen. Richter gab hierbei eine sehr gute Figur ab.

Switchability & Rimprotection

Diese defensive Multifunktionalität Richters, aber auch Atkins‘, erlaubt es wiederum den Niners, in der Verteidigung viel zu switchen, ohne wirklich in Gefahr von Mismatches zu geraten. Neben der individuellen Qualität in der Eins-gegen-Eins-Verteidigung harmonieren die Bigs zudem sehr gut, wenn es darum geht, wieder zurück zu switchen oder im letzten Moment doch noch zur Hilfe zu kommen und den Wurf des Guards zu blocken.

Allerdings sind die Niners hier auch darauf angewiesen, dass alle fünf Verteidiger mitdenken und in guter Position sind. Andernfalls fehlt ein wenig der klassische Rimprotector, der als Radiergummi auch mal eigentlich unmöglich zu bewerkstelligende Probleme lösen kann.

Ausblick

Zusammengefasst ergibt sich ein Bild, in dem Rodrigo Pastore ein kreativer Coach mit klarem Plan ist, der seine Spieler gemäß seinen Vorstellungen rekrutiert, exzellent nach ihren nuancierten Stärken einzusetzen vermag und dadurch Skill Ball eine eigene Handschrift verpasst, die bislang in Deutschland noch von keinem anderen Trainer derartig perfektioniert wurde. Allein aufgrund dieser Tatsache sollte Chemnitz im Playoffrennen ein gehöriges Wörtchen mitreden, solange Pastore im Amt ist. Insgesamt erweckt aber auch die Organisation als ganze von außen betrachtet den Anschein, als wäre sie noch nicht am Ende ihrer Entwicklung angelangt.

Und bei all dem, was bereits jetzt schon gut funktioniert, sollte nicht unterschlagen werden, dass Chemnitz‘ Kadersituation durchaus angespannt war und somit noch eine Menge Raum für Entwicklung birgt. Isiaha Mikes Name fand in diesem Text beispielsweise kaum Erwähnung. Dabei war seine Vertragsverlängerung im Sommer ein absoluter Coup angesichts seiner starken Rookie-Saison. Nach seiner Covid19-Erkrankung wird der Kanadier vermutlich noch Zeit brauchen, ehe er wieder an alte Form anknüpfen kann. Doch sobald das passiert, bringt er mit seiner überbordenden Sprunggewalt und Energie nochmal ein ganz neues Element in den Chemnitzer Frontcourt.

Zudem mussten die Chemnitzer in den letzten Wochen mehr oder weniger ohne Backcourt auskommen. Ohne die verletzten bzw. erkrankten Nelson Weidemann und Frantz Massenat, sowie die erst kürzlich dazu gestoßenen Trent Lockett und Eric Washington, war Pastore oft zur Improvisation gezwungen.

Dass Chemnitz trotz dieser Umstände mit einer Bilanz von acht Siegen und fünf Niederlagen auf dem neunten Tabellenplatz rangiert, ist ein Warnsignal an die Konkurrenz. Sollten alle fünf genannten Spieler fit werden, in Form finden und eine gewisse Chemie zueinander entwickeln, wird Chemnitz nicht nur in die Playoffs einziehen. Tatsächlich besitzt diese Mannschaft unter diesen Voraussetzungen dann tatsächlich genug Qualität, Tiefe und Harmonie, um jede andere BBL-Mannschaft auch in einer „best-of-5“-Serie zu schlagen.

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